Zeitzeugin aus St. Peter berichtet: „Das belastet mich noch heute“

Erstellt am 26. Jänner 2022 | 03:06
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Gertrude O’Shea ist mit ihren 99 Jahren eine Zeitzeugin, die viel erlebt hat und auch viel zu erzählen weiß.
Foto: Penz
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Gertrude O’Shea (99) über ihr Leben, die Nazi-Zeit und die Geschwister Scholl.

NÖN: Sie wurden in Perg geboren, Ihre Mutter war die Tante des früheren St. Peterer Arztes Doktor Bruckner. Wie war in Ihrer Kindheit Ihre Beziehung zu St. Peter?
O’Shea:
Ich verbrachte die Ferien immer und oft auch die Wochenenden mit meiner Familie in St. Peter. Mein Vater hatte eine wunderschöne Tenorstimme und obwohl er bei den Proben des Kirchenchores nicht dabei sein konnte, hat ihn die Chorleiterin damals die Soli singen lassen.

Als österreichischer Zollbeamter war Ihr Vater ab 1926 in Passau stationiert. Sie besuchten dort die Schule der Englischen Fräulein. Wie erlebten Sie die Zeit des „Anschlusses“?
O’Shea:
Schon Wochen vor Hitlers Einmarsch in Österreich sah ich viele militärische Verbände die Innbrücke überqueren. Mit großem Weh hörten wir gemeinsam die Abschiedsworte von Bundeskanzler Schuschnigg im Radio: „Gott schütze Österreich!“ Als mein Vater drei Tage lang verschwunden blieb, befürchteten wir, er könnte als Nazigegner bereits eingesperrt sein. Tatsächlich hatten ihn die bayrischen Kollegen vor den jüngeren österreichischen Zollbeamten, die allesamt begeisterte Nazis waren, versteckt, um ihn vor möglichen Prügeln zu schützen. Genau in diesen Tagen, zu Ostern, endete in Deutschland das Schuljahr. Ich musste für das Kleine Abitur einen Aufsatz zum Thema „Deutschland, Deutschland über alles in der Welt!“ schreiben. Meine rettende Idee war, Österreich zu denken und Deutschland zu schreiben! Mein Vater wurde als politisch Unzuverlässiger 1938 nach Linz strafversetzt.

Wie erlebten Sie Ihre Jugendzeit, woran konnten Sie sich erfreuen?
O’Shea:
Eiskunstlauf und Akrobatik auf Rollschuhen waren meine Steckenpferde. In Passau wurde ich bei den Stadtmeisterschaften immer auf den zweiten Platz gereiht, denn der erste musste einer Deutschen gehören. Als mein Vater im Zug einmal mein Eiskunstläufer-Idol, den Wiener Karl Schäfer, kontrollierte und mit ihm über mich sprach, wurde ich für zwei Wochen nach Wien eingeladen und bekam hier täglich acht Stunden Trainingsmöglichkeit auf Eis. Ich habe am Schlossteich in St. Peter/Au, aber auch mit Kunibert Zinner getanzt und konnte im Bachviertel beim ehemaligen Gasthof Schmied im Tanzsaal meine Künste auf Rollschuhen zeigen.

Sie haben im März 1941 in Linz mit Auszeichnung maturiert. Was war danach?
O’Shea:
Nach der Matura musste ich sogleich zum Arbeitsdienst in eine enteignete Judenvilla in der Nähe von Wr. Neustadt einrücken. Es war eine schreckliche Zeit: 6 Uhr Appell rund um die Fahne, quälende politische Schulungen, geschlafen wurde in eng nebeneinanderstehenden Stockbetten, ich fühlte mich wie im Gefängnis! Als wir tagsüber dann zum Außendienst bei Bauern mussten – das war eine Erlösung! Es war eine schlimme Zeit, eigentlich wollte ich studieren.

Das haben Sie dann auch und als Studentin haben Sie am Schicksal der Geschwister Scholl direkt Anteil genommen?
O’Shea:
Ja, ich studierte in München drei Semester Deutsch, Geschichte und Französisch. An jenem Februartag, an dem die Widerstandsbewegung „Weiße Rose“ entdeckt wurde, ging ich durch die „Drückebergergasse“ einen Umweg zur Universität, um nicht bei der Feldherrnhalle vorbei zu müssen, denn dort war der Deutsche Gruß verpflichtend. Die Uni war voller SS, man durfte nicht zu zweit zusammenstehen. An einem der folgenden Tage hatten alle Studenten im Audimax zu erscheinen; die „Verbrechen“ der Weißen Rose wurden vorgelesen. Wer für die Todesstrafe war, musste aufstehen. Neben mir saß ein Nazimädchen, am liebsten wäre ich unter den Tisch gekrochen! Alle standen auf, ich dachte nur an meine Eltern und erhob mich auch. Das belastet mich auch heute noch.

Sie übersiedelten dann nach Wien, wo sie über die Katholische Hochschulgemeinde den Bergpredigtpazifisten Stefan Matzenberger kennenlernten.
O’Shea:
Stefan Matzenberger traf ich in Begleitung seiner Schwester, ich habe ihn aber auch einmal in den Ferien im Schindelmacherhaus in Ertl besucht. Als zu Kriegsende immer mehr Bomben auch auf Wien fielen, mussten sich Studierende am Dachboden der Uni nachts als Feuerwache abwechseln. Wir saßen auf Balken, hatten Sandhaufen und Schaufeln zur Verfügung, um im Fall eines Brandes versuchen zu können, diesen mit Sand zu ersticken.

Dann rückten die Russen als Besatzungsmacht ein. Sie wollten zurück zur Familie nach Linz.
O’Shea:
Vom Franz-Josefs-Bahnhof konnte ich mit der Donauuferbahn nur bis St. Valentin fahren, daher begab ich mich nach St. Peter, wo zufällig auch meine Mutter weilte. Tagelang stand ich mit ihr in Steyr an der Ennsbrücke in der Hoffnung auf einen Austausch mit jemandem, der in den Osten wollte. Ich überlegte, über die Enns zu schwimmen, aber die Mama? Schließlich erfuhren wir von einem Bauern, der bereit wäre, Menschen mit seinem Boot über die Donau zu bringen. Wir wanderten Richtung St. Valentin und Mauthausen, mit viel Glück und einem Brief von der Gemeinde in Russisch sowie Schnaps und Zigaretten als Bestechung gelangten wir über Enns zum Vater nach Linz. Er hatte von uns nie die Post bekommen, die wir ihm geschrieben hatten. Am Küchentisch stand ein Foto von meiner Mutter und mir – mit einer Kerze und Blumen!

Sie haben dann in Innsbruck Ihr Studium beendet. Ihr Professor hat Sie für Kost und Logis nach Seefeld eingeladen, um sich um englische Germanistikstudenten zu kümmern.
O’Shea:
Ja, dort lernte ich meinen Mann Desmond O´Shea kennen, der unbedingt mit mir tanzen wollte. Durch einen Eintrag in einem Hüttenbuch bemerkte ich sogar, dass er denselben Geburtstag wie ich hatte. Ich heiratete ihn 1956 und bekam zwei Söhne. Mein Gatte aber war vom Krieg schwer traumatisiert, er konnte nirgends lange bleiben. Fünfmal musste ich innerhalb von zwölf Jahren in England übersiedeln. Nach langem Überlegen kehrten wir nach Österreich zurück, wo Desmond an der Uni Linz Studenten englische Fachsprachen lehrte. Desmond ging später wieder zurück nach England und ich unterrichtete bei den Kreuzschwestern Deutsch und Geschichte.

Mit Ihrer Pensionierung haben Sie ein Haus in St. Peter erworben, wo Sie noch immer alleine wohnen. Wie schaffen Sie das?
O’Shea:
Bis vor ein paar Jahren habe ich auch noch den Rasen selbst gemäht, Gartenarbeit und Blumen bereiten mir große Freude. Liebe Nachbarn erledigen mir den Einkauf, einmal monatlich unterstützt mich mein Sohn, aber die Wäsche wasche ich noch selbst und das Essen koche ich auch selbst. Wenn mich gute Bekannte und Freunde besuchen kommen, weiß ich das sehr zu schätzen! Ich lege Wert auf einen geregelten Tagesablauf und stelle mich eben all den Aufgaben, die das Leben an mich stellt!