Euthanasieopfer dem Vergessen entrissen

30.400 Krankenakte des jetzigen Landesklinikums Mauer aus den Jahren 1902 bis 1976 lagern im NÖ Landesarchiv, 3.840 davon stammen aus der Nazi-Zeit, als die damalige „Pflege- und Heilanstalt“ sich nahtlos in Hitlers Mordmaschinerie zur Durchsetzung von „erb- und rassenbiologischen Wahnvorstellungen“ einfügte. Im Jahr 2013 hat das Institut für jüdische Geschichte in Österreich gemeinsam mit dem Landesarchiv mit der Inventarisierung dieser Akten begonnen und damit viele Opfer von damals dem Vergessen entrissen. 1.269 Patientinnen und Patienten wurden bis 1941 von Mauer nach Hartheim verlegt und dort vergast. Sie sind namentlich bekannt. In Mauer-Öhling selbst starben von März 1938 bis Mai 1945 insgesamt 1.365 Menschen. In der Endphase im November 1944 und im April 1945 wurden 275 Patientinnen und Patienten durch Gift oder einen vom Arzt Gelny konstruierten Schockapparat mittels Strom ermordet. 190 dieser in 77 Gräbern am Anstaltsfriedhof beerdigten Toten sind namentlich bekannt.
Im Jahr 2019 wurde in Mauer die „Himmelstreppe“ aus Grabsteinen als Mahnmal für die Opfer errichtet. Im selben Jahr startete auch ein Top Citizen Science-Projekt, durch das die Ermordeten mithilfe ehemaliger Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Landesklinikums, Studierender und Regionalhistoriker auch eine Biografie und zum Teil sogar ein Gesicht bekommen haben.
Urgroßonkel war in Mauer-Öhling
So präsentierte etwa Martin Fuchs am Donnerstagabend im Amstettner Rathaussaal ein Foto seines 1902 geborenen Urgroßonkels Johann Mayerhofer, der ein Opfer der Euthanasie-Morde wurde. Erfahren hat Fuchs davon nicht von seiner Familie, sondern erst durch einen Vortrag des Historikers Götz Aly in Wien. Im Zuge seiner Diplomarbeit setzte Fuchs sich mit dem Schicksal des in Corona am Schöpfl geborenen Bruders seiner Urgroßmutter näher auseinander. Mit 25 Jahren traten bei ihm erste Symptome einer psychischen Beeinträchtigung auf. Zu diesem Zeitpunkt war er schon verheiratet und hatte vier Kinder. Er kam ins Krankenhaus Baden, von wo aus er ins Wiener AKH überstellt wurde, wo man Schizophrenie diagnostizierte. Am 1. Juni 1927 ging er auf Revers heim. Bis 1933 gibt es dann keine Unterlagen über Krankenhausaufenthalte mehr. Am 1. Dezember dieses Jahres ging er aber wieder ins Badener Spital, weil er Angstgefühle verspürte. Weiter führte sein Weg ins AKH, von dort nach Steinhof und dann nach Mauer-Öhling, wo er fast sieben Jahre blieb. Berührend ist ein Brief an seine Schwester vom Mai 1939. „Darin schrieb er, dass sie ihm seine Sonntagsschuhe bringen sollte und wenn sie sich schäme, in die Pflegeanstalt hineinzugehen, dann solle sie sie einfach über die Mauer werfen“, erzählte Fuchs. Im Frühjahr 1940 soll Mayerhofer noch einen Brief an die Familie geschrieben haben, worin stand, dass er verlegt werde. Wohin wisse er nicht. Dann hörten die Verwandten nichts mehr von ihm, bis im Herbst 1940 die Verständigung kam, dass er an einer Lungenentzündung verstorben sei. Tatsächlich gehörte Mayerhofer dem ersten Transport an, der im Zuge der Aktion T4 der Nazis nach Hartheim ging. Dort wurde er mit 139 anderen Patientinnen und Patienten ermordet.
Aber nicht nur Österreicherinnen und Österreicher, sondern auch Deutsche, wurden in Mauer ums Leben gebracht. Tanja Wünsche machte das anhand des Schicksals von Heinrich Renneborn deutlich, der im Jahr 1943 im Zuge der „Rheinland-Transporte“ nach Mauer-Öhling überstellt wurde, mit 66 Leidensgenossen. Renneborn kam 1907 in Düsseldorf zur Welt. Seine Krankengeschichte begann im März 1934 in der Heil- und Pflegeanstalt St. Alexius zu Neuss. Laut den Angaben seines Vetters, der ihn zur Anstalt begleitete, zeigte Renneborn seit Wochen ein verändertes Wesen: zunehmende Unruhe, Herumlaufen mit wenig Kleidung und ein Selbstmordversuch. Die Diagnose lautete „Schizophrene Seelenstörung“.
Patienten wurden in „Sicherheit gebracht“
Neun Jahre verbrachte Renneborn in der Anstalt, bevor er nach Österreich verlegt wurde. Offizielle Begründung: Das Gebiet sei durch Luftangriffe gefährdet und die Patienten würden daher „in Sicherheit gebracht“. Tatsächlich verloren aber die Verwandten die Kontrolle über ihr Schicksal, was ihre Ermordung erleichterte. Heinrich Renneborns Akte schließt am 16. April 1945 mit dem nüchternen Vermerk: „Gestorben um 8 Uhr 50 an acuter Nierenenzündung“. „Das geringe Gewicht des Verstorbenen (47 kg) lässt auf Mordversuch durch Verhungern schließen, Tag und Zeitpunkt des Todes auf Mord durch elektrischen Strom“, resümiert Wünsche. An jenem 16. April 1945 war Renneborn nicht das einzige Opfer. Tatsächlich verstarben die Menschen in der Anstalt an diesem Tag im Zehn-Minuten-Takt, wie die Krankenakten zeigen. Die Todesursachen wurden von den Ärzten systematisch gefälscht: Grippe, Lungenentzündung waren häufig, auch Darmkatarrh und Herzschwäche und der Patient Karl Weger starb angeblich sogar an einer Mittelohrentzündung. Sein Leben und sein Schicksal wurden von Johann Dorfmeister im Rahmen des Science-Projekts dem Vergessen entrissen.
Anna Kastner aus Haag holte Maria Mair und Franz Michlmayr zurück ins Gedächtnis der Öffentlichkeit. Beide kamen in Mauer-Öhling ums Leben, wobei der Tod Michlmayrs besonders „mysteriös“ war. Seine Familie bekam eine Benachrichtigung, dass er verstorben sei und Angehörige daher in die Anstalt kommen sollten. Dort trafen sie ihn aber lebend an. Wenige Tage später „verstarb“ er dann doch. Nun wird ihm und Maria Mair, dank Anna Kastners Engagement, in Haag auf einer Gedenktafel ebenso gedacht wie jenen Gemeindebürgern und -bürgerinnen, die in Hartheim ermordet worden sind.
Historiker Gerhard Ziskovsky zeigte auf, dass auch die Kreisaltersheime im Bezirk Teil des Euthanasieprogramms waren. Die Altersheime Amstetten, St. Valentin und Erla wurden schlagartig aufgelöst. Was mit den Bewohnern und Bewohnerinnen geschah, ist unbekannt. Das Schicksal von 62 Pfleglingen, die aus den Altersheimen der Region in die Heil- und Pflegeanstalt Mauer-Öhling überstellt wurden, kann nachvollzogen werden. 33 starben, drei in Hartheim, die anderen in der Anstalt selbst. Endbericht unter: www.injoest.ac.at/media/endbericht_projekt_namen_graeber_gedaechtnis.pdf
