Menschen als „Einzeller“ - Buchpräsentation in Baden

Sie sind Lebewesen, die mit fast nichts auskommen und aus nur einer Zelle bestehen: Richtig, die Rede ist von den Einzellern! Wär aber hätte gedacht, dass Gertraud Klemm, wenn sie in ihrem gleichnamigen Roman von dieser Spezies schreibt, eigentlich mit dieser Bezeichnung uns Menschen meint – und nicht über Bakterien oder Pilzen spricht?
Dass es in ihrem neuen Buch, dessen Titel nicht von ungefähr kommt, um eine Haltung des Autismus, die heute nicht nur Männer Frauen gegenüber, sondern auch Frauen Frauen und vor allem Menschen Menschen gegenüber an den Tag legen, wird bald klar. Denn so sehr sich die Protagonistinnen des Romans auch bemühen: Es bleibt für alle schwierig, über den eigenen Tellerrand hinaus zu blicken.
Der Inhalt von „Einzeller“ ist leicht erzählt: In einer Frauen-WG wird Zuwachs gesucht: Und so kommt es, dass schließlich zwei besondere Charaktere das Rennen machen: Die Juristin Flora und die Studentin Lilly werden aus dreißig Bewerberinnen ausgewählt – auch wenn es dabei nicht ganz fair zugeht. Und diese beiden dürfen ab jetzt das alte Schulgebäude, in dem zwischendurch ein Start-up untergebracht war, gemeinsam mit Simone, Eleonora und Maren bewohnen.
Besonders Lilly hat es den Dreien angetan: Sie ist sympathisch, neugierig und deutlich jünger als Simone, Eleonora und Maren. Wen wundert es, dass Lilly eine der beiden wichtigen Stimmen des Buches darstellt? Aber auch die ihr als Spiegelung und Projektionsfläche dienende zweite Protagonistin des Textes ist so eingeführt, dass nicht nur man(n) – sondern auch frau sie lieben muss: Simone Hebenstreit, langjährige politische Aktivistin mit Stil, wächst dem Leser – und vor allem der Leserin, insbesondere einer wie mir, sofort ans Herz. Ihre in der dritten Perspektive gestalteten inneren Monologe haben einen ironischen Duktus und sind gleichzeitig spritzig und geistreich, sodass man gern neugierig wird und immer mehr in ihren inneren Bewusstseinsstrom hinein gerät.
Bürgerliche Variante des Frau-Seins
Die Form des Textes ist abwechslungsreich: Wahlweise lässt uns Gertraud Klemm an dem Leben von Lilly, und dann wieder an dem von Simone teilhaben. Hier wird sofort klar, wer der beiden Frauen das Alpha-Tierchen ist: definitiv Simone. Diese echauffiert sich in leicht aufgebrachtem Ton auch in den ihr zugeordneten Kapiteln über die Welt – und ihre coole Haltung übt einen großen Reiz auf Lilly aus, die dann doch eher die bürgerliche Variante des Frau-Seins in unserer Gesellschaft lebt – aber irgendwie Sehnsucht hat, auszubrechen. So reiben sich diese fünf spannenden Charaktere in ihrer gemeinsamen Wohngemeinschaft aneinander ab. Dabei geht es nicht ganz schmerzfrei zu – denn zu tagespolitischen Themen wie Abtreibung, Queerfeminismus, Wokeness, Transgender oder auch MeToo haben die fünf Frauen aus den verschiedenen Generationen auch sehr unterschiedliche Ansichten. Zwar ist man sich einig, dass es gilt, sich gegen den weltweit drohenden Rechtsruck zu wehren – aber das war es leider auch schon.
Trotzdem: So sehr sich die beiden Frauen auch aneinander abreiben, so hören sie jedoch trotzdem nicht auf, sich aufeinander zu beziehen und einander einen Spiegel vorzuhalten. Und das ist gut so, denn: „Solange wir uns wie Einzeller gebärden, wird das nie etwas mit der Geschlechtergerechtigkeit.“