Der „taubstumme Dentist“ und seine „Hüter“
Der „taubstumme Dentist“ und seine „Hüter“. Der 1989 verstorbene Zahntechniker und Dentist mit angeborenem Gebrechen war eine Ikone. Seine historische Praxis ist im Museum gut aufgehoben.
2021 – 17. August: Langsam verblasst das Andenken an den „Heilenden Zahndentisten“ Kurt Mühmler. Die Geschichten, die man sich über ihm erzählte, geraten immer mehr in Vergessenheit. Der „Friedhofsgucker“ ist stets bestrebt, dass Verstorbene, mit ihren Taten in dieser Serie wieder auferstehen. Um so einen wertvollen Menschen handelte es sich bei Kurt Mühmler „Zahntechniker und Dentist“ mit einem angeborenen Gebrechen – er war taubstumm! Im ehrwürdigen „Tempel der Geschichte“ im Regionalmuseum Weissenbach werde ich von zwei kompetenten „Museums Männern“ erwartet. Wolfgang Stiawa war Patient und jugendlicher Freund des „Dentisten“, eine „goldene Zahnplombe“ die ihm Mühmler in den 60er Jahren einpflanzte, schmückt noch immer Stiawa’s Gebiss. Helmut Heimel wiederum, ist der Chronist der Familie Mühmler.
1906 – 28. Oktober: Als „Sonntags-Kind“ erblickte „Kurt“ als Sohn des Doktor der Medizin und Zahnarztes, Hugo Mühmler und seiner Gattin Helene das Licht der Welt. Kurt wurde praktisch in die Praxis, die sich direkt im Elternhaus befand, hineingeboren.
1907: In den ersten Monaten dieses Jahres wurde es immer mehr zur Gewissheit, sein jüngster Sohn „Kurt“ zeigte Symptome von Gehörlosigkeit. Sein Vater der erfahrene Arzt, sowie herbeigezogene Fachleute, konnten alle nur die gleiche Diagnose stellen – Taubstummheit!
Jahre vergingen, aus dem Baby wurde ein aufgeweckter Bub, sportlich, lebhaft, intelligent, aber mit dem Handicap der Gehörlosigkeit gegeißelt. Kurt wurde von Privatlehren, von seinen Eltern und in einer Gehörlosenschule, auf das „Abenteuer Leben“ vorbereitet. Er lernte von den Lippen abzulesen, bald war er der Schrift und des Lesens mächtig, eine Art Kehlen-Sprache (gutturale Laute) brachte er sich selbst bei.
1923: Kurt Mühmler interessierte sich immer mehr für Zahntechnik und Zahnmedizin, immer öfters hielt er sich in der hauseigenen Praxis auf. Eine erste große Herausforderung war die Ausbildung zum Zahntechniker, die er meisterlich am 15. Juli 1923 abschloss. Zur weiteren Ausbildung seines Sohnes und zur Verstärkung der Praxis stellte Dr. Hugo Mühmler den aus Hannover stammenden „Dentisten Friedrich Meineke“ ein. Kurt Mühmler besuchte auch mehrere Praxen in Wien, um weitere Kenntnisse in der Zahnheilkunde zu erlernen.
1938: In diesem Jahr hatte es Mühmler „der Taubstumme“ aus Weissenbach geschafft! Er war nun nicht nur Zahntechniker, sondern auch „diplomierter Zahndentist“. Jetzt durfte er eigenständig Patienten behandeln und „Extraktionen“ durchführen. Mühmler war aber nicht nur „pflichtbewusster Dentist“, sondern auch ein treuer Bergkamerad – allein im Hüttenbuch aus den 30er Jahren der „Wintersportstation Almesbrunnberg (1079 m)“ verewigte sich der Sportmann 27-mal. Mit der „Schneeschuhlaufriege-Weissenbach“ frönte der „gehörlose Dentist“ den Wintersport. Aktiv war Kurt Mühmler auch beim „Österreichischen Touristenklub – Sektion Triestingtal“ wo er auch für manche Projekte finanzielle Hilfe leistete.
1942: Sein Vater der „Medizinalrat Hugo Mühmler“ übergab nun die Zahnpraxis an seinen Sohn, den „jungen Dentisten“. Kurt Mühmler war wohl der erste und letzte Zahndentist mit Gehörlosigkeit! Aber ganz allein ging es nicht, die größte Stütze war seine Schwester Johanna (1900-1984). Sie, die gelernte „medizintechnische Assistentin“ kümmerte sich um alles, was das Leben ihres Bruders erleichterte.
Nach dem Krieg, so ab 1946, wuchs der zahnärztliche Betrieb ständig, bald hatte Mühmler ein Team von vier bis fünf Mitarbeiter um sich. 1950 wurde auch noch ein Zahntechniker eingestellt, sein Name Fritz Müllauer aus Berndorf, er war bis 1974 in der „Zahnwerkstätte“ tätig.
1952: Jetzt wurde mal richtig Urlaub gemacht, aber nicht wie andere Zeitgenossen per Bahn oder Auto, nein! Der „taubstumme Zahnkünstler“ nahm sein altes Waffenrad baute einen „Fuchs-Hilfsmotor“ darauf und radelte los – Richtung Alpen, über den Großglockner bis nach Südtirol – allein gestellt, bewaffnet nur mit einem Fotoapparat, der Sprache nicht mächtig und ohne Gehör! Hut ab vor solchen Menschen! Zurück von dieser abenteuerlichen Reise, stürzte sich der „Zahnarzt“ wieder in seine Arbeit, die Ordination musste modernisiert werden. Eine „Siemens Röntgenkugel“ wurde in Betrieb genommen. Ein Turbinenbohrer, der neuesten Generation, war der ganze Stolz des „Zahnmagiers“.
Lampen blinkten statt Türglocken-Geläute
Not macht erfinderisch: Mühmler wollte natürlich Tag und Nacht für seine Patienten da sein, aber als gehörloser konnte er die akustische Türglocke nicht hören, so ließ er sich in jedem Zimmer Speziallampen einbauen; wurde an der Haustüre geläutet, blinkten im ganzen Haus die Lampen auf und so wusste der schlaue Kurt das er gebraucht wurde.
Die Ordination veränderte sich ständig und Dentist Mühmler mit ihr. In den 70er Jahren experimentierte er mit chinesischen Akkupressurtechniken – Nadelringe an den Fingern sollten Schmerzen lindern, ob diese Technik mit Erfolg gekrönt war, konnte nicht mehr in Erfahrung gebracht werden.
1984 – 25. Juli: Seine Schwester Johanna verließ für immer diese Welt, nun stand Kurt Mühmler mit 78-Jahren alleine da – taubstumm und ohne Johannas Hilfe war an eine Weiterführung der Praxis nicht zu denken. Er versiegelte liebevoll seine über 80 Jahre alte Ordination, mit dem dazugehörigen „Prunkstück“ einen 1895 gebauten Zahnarztstuhl. Mühmler hatte aber seine Praxis so „eingemottet“, dass er sie im Notfall jederzeit in Betrieb nehmen konnte.
Am Heiligen Abend 1986 war es dann so weit, Wolfgang Stiawa, der gerade im entstehenden Heimatmuseum arbeitete, bekam schwere Zahnschmerzen, Hilfe erhoffte er sich beim Nachbarn, den pensionierten „Zahnheiler“, zu finden. Stiawa klingelte, die Lampen blinkten wie früher in der Villa auf. Mühmler erschien, er merkte gleich, was los war. „Der alte Herr Dentist“ führte den Patienten, in die eingemottete Ordination, setzte ihm auf dem historischen Zahnarztstuhl, schaute geschult in sein Gebiss, nahm eine Zange und zog im nächsten Moment das eitrige Relikt aus Staiwa’s Mund, den Aufschrei, den der Patient von sich gab, merkte Mühmler natürlich nicht, er war ja taub! Dies war die letzte Extraktion, die der „Zahnmagier“ durchführte.
1987: Seine geliebte Praxiseinrichtung, mit hunderten von Utensilien übergibt er nun dem neu entstehenden Regional-Museum in Weissenbach. Mühmler machte mit Stiawa und Heimel einen Vertrag – die beiden „Museumsmänner“ werden quasi als „Hüter des medizinischen Schatzes“ eingesetzt. Der „alte Herr Zahndentist“ besuchte aber wöchentlich seine Praxis, die nun im Museum stand. In eine Vase, die neben seines geliebten „Zahnturbinen-Bohrer“ platziert war, steckte er bei jedem Besuch frische Blumen hinein – ja so war eben der „Exzentriker“ Kurt Mühmler.
1989: Der Dentist spielt Karten bei seiner Verwandtschaft, so um 21 Uhr wird ihm übel, er geht nach Hause. Im Schlafzimmer seiner Villa überfällt den 83-jährigen Schwindel, die Kräfte verlassen seinen Körper, er stürzt mit dem Kopf auf eine Bettkante, Blut strömt von seinem Haupt – Schlaganfall – das Leben verschwindet in Sekundenschnelle. Ein Leben, das an einem Sonntag im Jahre 1906 begann, endet nun Sonntag, den 30. April 1989. Am nächsten Tag, dem 1. Mai, warten seine Stammtischbrüder im Gasthaus Breitenberger vergebens auf ihren Freund – den einzigen „taubstummen Dentisten“ den es je gab.
Noch etwas zum Schluss: Manche Besucher des Regional-Museums schwören „Stein und Bein“, dass sie schrille Bohrgeräusche gehört haben, desto länger sie die ausgestellten „Zahnutensilien“ besichtigten. Auch Laute wie „Meerten, Meerten?“ (Hast Du Schmerzen?), wie es Kurt Mühmler aus seiner Kehle presste, sollen in den Räumlichkeiten schon des Öfteren vernommen worden sein…