Ziersdorfer Lyriker: „wenn man schon riecht“

Erstellt am 19. März 2021 | 04:35
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Gerhard Ruiss
„Seine vielschichtigen Gedichte spielen mit Sprachebenen“, befand die Jury des H.C. Artmann Preises 2020 über Gerhard Ruiss lyrisches Können.  :
Foto: Roland Zust
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NÖN sprach mit Ziersdorfer über Motivation zu seinem neuen Werk.

Ein großzügiger, sehr einladend gestalteter Lyrikband ist soeben von Gerhard Ruiss in der Literaturedition Niederösterreich erschienen. Ruiss, nimmermüder Kämpfer für die literarisch schreibende Zunft, leitete neben vielen seiner Engagements bis letztes Jahr auch die Schreibakademie Hollabrunn. Unter dem Titel „lieber, liebste, liebes, liebstes“ reiht der gebürtige Ziersdorfer Gedichte von „A“ wie „aggressionsschutz“ über „H“ wie „hno“ bis „Z“ wie „zu hören, von dem, was gespielt wird, kein ton“ und spielt ein Lyrik-ABC durch, das ein reichhaltiges Ganzes ergibt. Hier kann jeder seinen persönlichen Schatz Wortkunst heben.

Subtil weise und lebensnahe Texte sind das, die mit ebensolchem Humor nicht geizen. Das Augenzwinkern, das Augenzudrücken und eine herrlich angenehme Unaufgeregtheit lassen das Buch auch für Lyrik-Einsteiger passend erscheinen. „so gehen ich und mein fisch / er ständig älter / ich nicht mehr frisch.“, ist ein Beispiel für die niederschwellige Hinterhältigkeit der Texte; der Titel dieses Gedichts: „wenn man schon riecht“.

„Die Gedichte wollen das Lebens- und Liebesglück nicht übertreiben, aber herausfordern doch“, heißt es in einer Art Vorwort zu den „andichtungen“, wie Ruiss den 224 Seiten starken Hardcover-Band im Untertitel nennt. Die Hollabrunner NÖN sprach als erstes Medium mit dem – erst vergangenes Jahr mit dem H. C. Artmann-Preis für Lyrik ausgezeichneten – Autor über Zweideutigkeiten, Kleinschreibung und die Motivation, „liebstes“ zu sehen und in Sprache zu übertragen.

NÖN: Wem wollen Sie etwas „andichten“ und warum?

Gerhard Ruiss: Jemandem etwas anzudichten, ist nur die eine Seite. Eine zweite ist, wen anzudichten, also anzuhimmeln. Es geht mir um beide Seiten; um das bösartige Gerede – über wen oder was auch immer – und um die Begeisterung für etwas oder wen anderen. Vielleicht geht es sogar um ein- und dasselbe oder ein- und dieselben, nur einmal in den Himmel gehoben und das andere Mal in Grund und Boden verdammt, ohne dass die Angedichteten oder die, denen etwas angedichtet wird, selbst etwas dazu beitragen. Sie sind nur die Projektionsfläche.

Wie zweideutig ist der Titel zu verstehen?

Ruiss: Der Titel ist noch viel mehr als nur zweideutig. Das ergibt sich aus dem Gebrauch von „lieber, liebste, liebes, liebstes“; es reicht vom gönnerhaften Umgang bis zur Anbetung, von der Bevorzugung bis zur Leidenschaft. Etwas kleiner machen zu wollen und die Bewunderung oder das Bedürfnis nach Distanzierung und die Suche nach Nähe liegen häufig eng beieinander. Es bewegt sich in diesen Gedichten alles in einem sehr persönlichen oder auch privaten oder intimen Rahmen, auf den ich den Blick frei machen möchte. Schon das Cover schreit nicht, sondern sagt: Sie müssen näher kommen. Wenn man es gegen das Licht hält, glänzt die Schrift. Streicht man mit den Fingerkuppen darüber, spürt man ein Auf und Ab. Es gibt kleine rote Leuchtpunkte, die die Seiten nummerieren und rote Zwischendeckblätter, die den Gedichtband in kleine Séparées unterteilen. Seine Sinnlichkeit soll auch in allen grafischen Facetten zum Ausdruck kommen.

Woher nehmen Sie die Motivation, „liebstes“ aktuell zu sehen beziehungsweise zu empfinden?

Ruiss: Wenn es um Vorlieben und Liebe geht, sind Wünsche und die Sehnsucht nicht weit. Lebt man eingesperrt wie jetzt, entstehen sie ganz von selbst. Wir haben ein Jahr voller Distanzierungen hinter uns. „lieber, liebste, liebes, liebstes“ ist für mich Nähe, Zuwendung, Lebensbejahung: Das Schreckliche ist zwar da, ist aber bei Weitem nicht alles. Der, die und das Geliebte ist die gelebte und nicht die gesuchte und nie eingelöste Sehnsucht. Es gibt über die jetzige alltägliche Erkrankungszählerei hinaus größere Dimensionen, Zuversicht zum Beispiel. Mir ist wichtig, auch über meine eigenen, zumeist beißenden Auseinandersetzungen mit der Beziehungswelt hinaus einmal zu sagen, so läppisch man das eine oder andere auch empfinden mag, so wichtig ist es andererseits.

Welchen stilistischen Stellenwert hat die konsequente Kleinschreibung bei Ihnen?

Ruiss: Die Kleinschreibung meiner Gedichte ist eigentlich ein Nebenprodukt. Es geht mir darum, die Aufmerksamkeit ganz auf die Gedichte zu lenken, also möglichst wenig Unruhe in das Schriftbild und keinen anderen Rhythmus durch Großbuchstaben in ein Gedicht zu bringen. Das bezieht sich auch auf Satzzeichen, die nur dann eingesetzt werden, wenn sie aus Rhythmusgründen zwingend sind und wenn kein Zeilenbruch gemacht werden kann, der das Gedicht zu unruhig machen würde. Dass es in diesem Gedichtband auch außerhalb der Gedichte nur Kleinschreibung gibt, ist dem Umstand zu verdanken, dass mein Lektor und Grafiker, Matthias Schmidt, der übrigens in seinen Erläuterungen zur Grafik des Buchs die Groß-/Kleinschreibung verwendet, alles an und in diesem Buch in die Traditionslinie der konkreten Poesie gestellt hat, wo man sozusagen das Überflüssige weglassen kann. Ansonsten verwende ich konventionelle Schreibungen.