Traumatisierende Ereignisse: „Im Lockdown reißt oft die Hutschnur“

Die 15 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Akutteams von Notruf NÖ sind zurzeit im Dauereinsatz. Sie werden kontaktiert, wenn Menschen nach traumatisierenden Ereignissen mit ihren Kräften am Ende sind – bei Mord, Suizid, Unfällen oder Gewalt in Familien. „In den vergangenen Jahren sind die Einsätze mehr“, erzählt Leiterin Veronika Böhmer.

Über einige Monate lief daher ein Umstrukturierungsprozess. Das Akutteam NÖ, das aus 55 Werkvertrags-Bediensteten bestand, wurde auf ein fixes 15-köpfiges umgestellt. Durch das verkleinerte Team stehen nicht weniger, sondern mehr Ressourcen zur Verfügung, meint Böhmer. Bei 1.000 Einsätzen pro Jahr sei es nicht mehr möglich gewesen, mit Bereitschaftsdiensten von anderswo Hauptbeschäftigten zu arbeiten. Es müsse jederzeit jemand fix verfügbar sein.
Konkret sind das Psychologen, Psychotherapeuten und Sozialarbeiter. Das unterscheidet das Akutteam von Kriseninterventionsteams, wie sie die Rettungsorganisationen haben. Dort kümmern sich Sanitäter um die erste Betreuung nach schlimmen Ereignissen. „Wir arbeiten eng zusammen“, erzählt die Sozialarbeiterin.
Bedarf an psychischer Hilfe steigt mit jedem Lockdown
Verständigt werden die Experten nach konkreten Ereignissen von der Rettung, der Polizei, aber auch Betroffenen und Angehörigen selbst. „In den vergangenen Jahren haben die telefonischen Anfragen von Betroffenen stark zugenommen“, erzählt Böhmer. Das, wie berichtet, vom Hilfswerk betriebene und im Sommer eingestellte Krisentelefon können die Mitarbeiter aber nicht ersetzen. „Dafür haben wir keinen Auftrag und es sind auch keine Ressourcen dafür vorgesehen“, sagt die Leiterin. Die Anrufer würden sich nun auf andere telefonische Dienste verteilen. Das Akutteam ist dann zuständig, wenn ein konkretes Ereignis Überforderung ausgelöst hat.
In die Höhe geschnellt ist der Bedarf an professioneller psychischer Hilfe auch mit jedem Lockdown. Wenn Menschen rund um die Uhr auf engem Raum sind, „reißt oft die Hutschnur“, sagt die Sozialarbeiterin. „Wir sind seit fast zwei Jahren in einem Ausnahmezustand“, ergänzt Akutteam-NÖ-Psychologe Gerd Mantl.

Damit meint er nicht nur jene Personen, die sich an die Fachkräfte wenden, sondern die gesamte Gesellschaft. Psychologisch nennt man das Tunneldenken. Durch Einsamkeit, die Flut an schlechten Meldungen und Co. gerät man in eine negative Gedankenspirale. Positives und Lösungswege werden nicht mehr gesehen.
Mehr Eskalationen in Familien
Eskalationen in Familien sind in der Covid-Zeit deshalb wesentlich mehr geworden, bestätigt das Duo. Einerseits betrifft das Gewalt an Frauen. „Aber auch Männer rufen bei uns an, weil sie sich zuhause nicht mehr sicher fühlen“, berichtet Böhmer und betont, dass das nicht immer körperliche Gewalt bedeute.
Ans Telefon geht beim Akutteam NÖ eine Fachkraft. Sie entscheidet, ob am Hörer geholfen werden kann oder ein Einsatz vor Ort notwendig ist. In beiden Fällen kümmert sich der Mitarbeiter um die erste Stabilisierung der Betroffenen. Es wird geschaut, ob diese über genügend psychische Ressourcen verfügen, selbst mit Situation fertig zu werden. Wenn nicht, wird Kontakt mit Hilfseinrichtungen wie dem Psychosozialen Dienst der Caritas oder dem Weißen Ring für Kriminalitätsopfer aufgenommen.
Die Alarmierung erfolgt über 144. „Wir sind nie nicht zuständig“, versichert Böhmer. Auch, wenn die Hilfe „nur“ darin besteht, an die richtige Stelle zu vermitteln.