Corona: Armut dringt in die Mittelschicht ein

Erstellt am 14. Oktober 2020 | 17:37
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Armutsexperten schlagen Alarm: Wolfgang Brillmann (SAM NÖ), Maria Nirnsee (arbeitplus), Michael Lackenberger (Schuldnerberatung NÖ), Barbara Bühler (NÖ Armutsnetzwerk), Martin Litschauer (Caritas Erzdiözese Wien), Beate Schneider (Caritas St. Pölten)
Foto: U. Oswald
"Schau auf Dich. Wer schaut auf mich? Wovor Masken nicht schützen." Unter diesem Motto lud das Armutsnetzwerk NÖ zu einem Pressegespräch in den soogut Sozialmarkt in St. Pölten. Zwei Punkte hoben alle geladenen Sozialexperten heraus: Die Mittelschicht ist immer stärker armutsgefährdet und das volle Ausmaß der Krise wird erst um den Jahreswechsel schlagend werden.
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Kurzarbeit, Arbeitslosigkeit und irgendwann Armut: Viele Menschen rutschen seit Beginn der Coronakrise immer tiefer in eine Existenzkrise. Das Armutsnetzwerk präsentierte nun mit einigen seiner 27 Mitgliedsorganisationen - darunter Caritas, Schuldnerberatung NÖ, SAM NÖ (soogut-Märkte) und arbeitplus - was die Krise jetzt bereits ausgelöst hat.

Wolfgang Brillmann, Geschäftsführer der soogut-Sozialmärkte in NÖ, freut sich grundsätzlich, dass die Sozialmärkte während der Krise überdurchschnittlich viele Waren bekommen haben. Masken waren leider nicht darunter, sagt Brillmann, hier musste man sich mit Selbstgenähtem behelfen. Allerdings gebe es einen starken Kundenzuwachs, bedingt auch durch den Anstieg der Arbeitslosigkeit. Auf rund zehn Prozent schätzt Brillmann den Kundenzuwachs, genaue Zahlen werden erst zu Jahresende vorliegen.

Ein Weg, gepflastert mit rohen Eiern

Maria Nirnsee, Geschäftsführerin von arbeitplus, vergleicht die Coronakrise mit einem Weg, gepflastert mit rohen Eiern: Der Jobmarkt sei schwierig, die Prognosen verhalten. "Corona hat es für Menschen, die am Arbeitsmarkt Fuß fassen wollen, noch schwieriger gemacht." Aufgrund einer verunsicherten Wirtschaft gebe es derzeit allzu viele Variable, bedauert Nirnsee. Hauptbetroffen ist die Gruppe der 25- bis 49-Jährigen. Der Spruch: "Wenn man was gelernt hat und arbeiten will, dann findet man auch Arbeit", der stimme einfach nicht mehr, sagt die Arbeitsmarktexpertin. Und fordert eine aktive Arbeitsmarktpolitik mit geförderten Beschäftigungsmodellen, die Einbeziehung der Betroffenen und mehr Arbeitsteilung.

Ruhe vor dem Sturm bei der Schuldnerberatung

Michael Lackenberger von der Schuldnerberatung NÖ schlägt sich derzeit mit eher unüblicher Klientel herum: Viele Menschen aus der Mittelschicht schaffen es derzeit nicht mehr, Raten oder Schulden zu bedienen. "Derzeit haben wir die Ruhe vor dem Sturm", sagt Lackenberger, "denn der Run auf die Schuldnerberatung kommt immer zeitverzögert, aber er kommt." Sprich: etwa ein halbes Jahr nach der Krise.

Lackenberger wünscht sich daher mehr Bundesmittel für die Schuldnerberatung und "Gläubiger mit Augenmaß". Denn leider, bedauert er, lehnten Gläubiger außergerichtliche Lösungen fast immer ab.

"Ich dachte nie, dass ich einmal zur Caritas gehen muss"

Beate Schneider von der Caritas St. Pölten kann bestätigen, dass auch ihre Organisation derzeit mit Klienten konfrontiert ist, die vor ein paar Monaten selbst nicht gedacht hätten, dass sie jemals "zur Caritas gehen müssen." Wohnen, sagt Schneider, müsse einfach wieder leistbarer werden. Da gehe es nicht nur um Obdachlose sondern auch um Menschen, die in äußerst prekären Wohnsituationen leben. Die zum Beispiel mangels eigener vier Wände bei Bekannten übernachten müssen.

Mieten und Energiekosten rigoros eingefordert

Martin Litschauer von der Caritas Wien merkt an, dass Mieten und Energiekosten, die zu Beginn der Krise noch gestundet wurden, derzeit immer rigoroser eingefordert werden. Delogierungen und Energierabsperrungen seien die Folge. "Viele Menschen am Land trauen sich auch nicht, bei Behörden um Hilfe anzusuchen", weiß Litschauer. Überdies seien viele Anträge übers Internet zu erledigen - aber genau das haben armutsgefährdete Menschen oft nicht mehr.

Miet- und Energiekostenrückstände müssten in der Sozialhilfe berücksichtigt werden, fordert Litschauer. Überdies müsse es viel rascher staatliche Hilfe geben, "manche Menschen können nicht warten".

Die Krise werde erst um den Jahreswechsel voll durchschlagen, befürchtet auch Litschauer.