Eiserner Vorhang: Tod, Vertreibung – und Versöhnung

Es war zwei Wochen vor Weihnachten, am 15. Dezember 1949. An diesem Tag versuchte Marian Frankic, jugoslawischer Staatsbürger, über die tschechoslowakische Staatsgrenze nach Österreich zu gelangen. Doch er wurde von einer Streife der Grenzwache bei Artholz (Artolec) bei Neubistritz ertappt und erschossen.
Der erste Tote an einer Eiserner Grenze
Er war der erste Tote an der Grenze zwischen der kommunistischen Tschechoslowakei und dem freien Österreich, am „Eisernen Vorhang“. Bis zum Ende der kommunistischen Diktatur und dem damit einhergehenden Abbau des Grenzzaunes und der Bewachungsanlagen sollten noch weitere 128 Menschen bei Fluchtversuchen in den Westen den Tod finden. Was weniger bekannt ist: Auch Hunderte Soldaten des tschechoslowakischen Grenzschutzes, meist junge Burschen, starben durch Unfälle in den Sperranlagen oder durch Selbstmord, weil sie die Situation nicht mehr ertrugen.
Details wie diese und die wechselvolle, spannungsgeladene Geschichte der beiden Länder zeichnet ein neues Buch nach: „Nachbarn – ein österreichisch-tschechisches Geschichtsbuch“. Herausgegeben und geschrieben wurde es erstmals von Historikern beider Länder gemeinsam. Federführend dabei war Niklas Perzi vom Zentrum für Migrationsforschung in St. Pölten, ein Waldviertler, der seine publizistische Laufbahn als Mitarbeiter der NÖN begann.
Ab 1945 und dann Jahrzehnte lang lag Niederösterreich gewissermaßen am Ende der Welt, zumindest am Ende der freien Welt, und das war für die Bewohner und Besucher deutlich sicht- und spürbar. In Zeiten der Monarchie war dies anders, Böhmen und Mähren waren ein Teil des Reiches, die Beziehungen sehr intensiv, Grenzen gab es keine. Doch auch in dieser Zeit war das Verhältnis nicht spannungsfrei, die Tschechen fühlten sich als unterprivilegiert, auch gegenüber den Ungarn, die ab 1867 in der nunmehrigen Doppelmonarchie einen Sonderstatus erhielten.
Von intensiven Beziehungen bis zu umstrittenen Dekreten
Dieses Gefühl der geringen Wertschätzung führte letztlich auch zu den Konflikten nach dem Ende der Monarchie und nach dem Zweiten Weltkrieg. Die deutschsprachige Minderheit, die Sudetendeutschen, setzte mehrheitlich ihre Hoffnungen auf Hitler-Deutschland – und büßte dafür schrecklich nach dem Krieg: zweieinhalb Millionen Sudetendeutsche wurden enteignet, zwangsweise ausgesiedelt, vertrieben. Nur 250.000 verblieben in der Tschechoslowakei, diese wurden oft in andere Gebiete umgesiedelt.
Die sogenannten „Benes-Dekrete“ bildeten künftig den Kernpunkt des Konfliktes zwischen den Nachbarländern und polarisierten am stärksten. Während in Österreich im Zuge der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus auch die Rolle der Sudetendeutschen differenzierter betrachtet wurde, war die Vertreibung bis vor kurzem in Tschechien immer noch ein Tabu. Erst eine jüngere Historikergeneration, die auch am genannten Buch mitwirkte, begann mit einer kritischen Aufarbeitung der eigenen Seite.
So gesehen ist dies Neuland und ein Beginn einer echten Versöhnung und eines Neuanfangs – 70 Jahre nach den Ereignissen und 15 Jahre nach dem Beitritt Tschechiens zur EU. „Nachbarn – Ein österreichisch-tschechisches Geschichtsbuch“ , herausgegeben von Niklas Perzi, Ota Konrád, Hildegard Schmoller und Václav Šmidrkal, 416 Seiten, 34 Euro, Bibliothek der Provinz