Kurt Kotrschal: „Der Wolf wird nicht verschwinden“

Erstellt am 25. März 2023 | 07:00
Lesezeit: 12 Min
Biologe Kurt Kotrschal
Wolfsforscher Kurt Kotrschal
Foto: Brandstaetter
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Das Land NÖ hat „Problemwölfe“ zum Abschuss freigegeben. Völlig verkehrt, sagt Verhaltensforscher Kurt Kotrschal, Mitbegründer des Wolf Science Center in Ernstbrunn.

NÖN: Das Land NÖ hat gerade eine neue Wolfsverordnung erlassen, die in gewissen Fällen den Abschuss von sogenannten Problemwölfen erlaubt. Was halten Sie davon?

Kotrschal: Das ist eindeutig EU-rechtswidrig. Die sogenannte FFH-Richtlinie betrifft nicht nur den Wolf, sondern sehr viele Tierarten und Habitate, um die es in Österreich zu 80 Prozent schlecht bestellt ist. Aufgrund des ungenügenden Habitatschutzes haben wir gerade ein Vertragsverletzungsverfahren der EU am Hals und mit dem Wolf wird uns dasselbe blühen.

Was besagt die FFH-Richtlinie im Fall des Wolfes?

Kotrschal: Die FFH-Richtlinie sieht zwar den Abschuss von Problemwölfen vor, doch das gilt nur unter zwei Bedingungen, nämlich: ein Wolf hat die Distanz zum Menschen verloren. Das passiert ganz, ganz selten – immer nur dann, wenn ein Wolf angefüttert wird. Wir haben jetzt 2.500 Wölfe in Deutschland und das ist in den letzten 20 Jahren vielleicht fünfmal passiert. Oder: Wenn er sich trotz State-of-the-Art-Herdenschutz auf Weidetiere spezialisiert, die geschützt sind. Wenn Schafe hinter dem Schafszaun stehen, dann sind sie nicht gegen den Wolf geschützt und ein Wolf, der sich an ihnen vergreift, ist kein Problemwolf.

Warum, glauben Sie, wird dennoch so agiert?

Kotrschal: Die Landesregierungen wissen, dass vermutlich ein Vertragsverletzungsverfahren ins Haus steht, aber das braucht halt Zeit. In der Zwischenzeit fuhrwerkt man – und das Katastrophale an diesen Erlässen ist, dass man Leuten vorgaukelt, man wird das Problem – für jene, für die es eines ist – mit Abschuss lösen. Und das wird nicht funktionieren.

Warum?

Kotrschal: Sie können Wölfe schießen, so viele sie wollen. Österreich ist von starken Populationen umgeben. Für jeden abgeschossenen Wolf kommen im Moment zwei weitere herein und wenn ich meine Schafe nicht geschützt habe, dann liegen sie schon wieder. Die Ausrede, Herdenschutz funktioniert nicht, ist Unsinn. Er funktioniert natürlich. Es gibt schwierige Situationen, aber man muss sich einfach im Wirtschaften umstellen. Hier spricht aus mir nicht ein Wolfsfreund, sondern schlicht und einfach die Vernunft. Die Zahl der Wölfe in Mitteleuropa nimmt zu und sie werden wahrscheinlich nie wieder verschwinden. Wir werden mit ihnen leben müssen. Manche freut das, manche weniger.

Kotrschal
Ruhe bewahren, nicht hysterisch werden, einen rationalen Zugang finden, denn der Wolf wird nicht wiederverschwinden und der Abschuss nutzt nichts: So lautet die Botschaft des Wolfsforschers Kurt Kotrschal, hier mit Eurasierhündin Bolita und Hudson-Bay-Wolf Wapi. Die aktuelle Wolfsverordnung hält er für rechtswidrig.
Foto: Walter Vorbeck

Gibt es Beispiele dafür?

Kotrschal: Es gibt Daten, die zeigen, dass halblegaler Abschuss, wie zum Beispiel in Frankreich praktiziert, wo man jährlich etwa zehn Prozent der Population rausnimmt, nicht funktioniert: Im Moment sind es in Frankreich 1.000 Wölfe, letztes Jahr wurden 100 abgeschossen – die Schäden bei den Nutztieren sind gestiegen. Wolfspopulationen, die beschossen werden, kurbeln die Reproduktion an. Was wir brauchen, ist Rudelbildung, damit sich die Lage beruhigt. Der Abschuss wiegt die Nutztierhalter in der falschen Sicherheit, das wäre die Lösung des Problems, und sie vernachlässigen den Herdenschutz.

Warum sollte man Rudelbildung anstreben?

Kotrschal: Weil Wölfe innerhalb des Rudelterritoriums keine weiteren Wölfe dulden und die Dichten auf einem konstant geringen Niveau bleiben. Und: Wenn die Wölfe gelernt haben, dass der Versuch, ein Schaf niederzulegen, mit einem Stromschlag verbunden ist, geben sie diese Erfahrung an die Nachkommen weiter und es herrscht relative Ruhe in diesen Gebieten. Aber wie gesagt: Herdenschutz ist Bedingung.

Für jeden abgeschossenen Wolf kommen im Moment zwei weitere herein. Biologe Kurt Kotrschal

Sie haben viele Jahre lang das Verhalten von Hunden und Wölfen erforscht. Warum eigentlich mögen wir die einen und fürchten die anderen?

Kotrschal: Die Einstellung zu Tieren wird immer sehr vom sozioökonomischen Hintergrund und von der Kultur bestimmt. Wir haben vor einiger Zeit am WSC eine Umfrage unter 2.500 Leuten gemacht und detaillierte Fragen zu ihrer Beziehung zu Wolf und Hund gestellt und haben völlig unterschiedliche Profile bekommen. Wölfe sind eher die schutzwürdigen Geister des Waldes. Da schwingt bis heute eine Menge Metaphysik mit – interessanterweise bei Frauen mehr als bei Männern. Die Hunde sind dagegen schlicht und einfach unsere Gefährten und die meisten Leute denken nicht einmal daran, dass ihr Pudel vom Wolf abstammt. Vielen Leuten ist es auch unangenehm, daran zu denken, aber es nutzt nix: 95 Prozent der Gene eines Dackels sind immer noch Wolf.

Doch der Wolf war einmal verschwunden …

Kotrschal: Als wir bis vor 10.000 Jahren noch Jäger und Sammler waren, hatten wir ein relativ gutes Verhältnis zum Wolf. Mit dem Sesshaftwerden, mit Nutztieren etc. ist der Wolf schön langsam in den Bereich des Gegners gekippt. Stark gekippt ist die Situation im auslaufenden Mittelalter, speziell im 30-jährigen Krieg, als die Leute was anderes zu tun hatten, als auf ihre Tiere aufzupassen und auf Wolfsjagd zu gehen. Immer zu Kriegszeiten haben Wölfe Highlife. Das macht sie nicht gerade sympathischer. Und ab dem 30-jährigen Krieg haben sich die absolutistischen Herrscher unter anderem als treusorgende Landesherren profiliert, indem sie höchstpersönlich auf Wolfsjagd gingen. Dann erst begann wirklich die Ausrottung der Wölfe in Mitteleuropa. Nicht so sehr, weil sie die Bedrohung für die einzige Kuh im Stall des Kleinhäuslers waren, sondern weil sie damals die einzige Bedrohung des Jagdprivilegs des Adels waren. Diese Herrschaften haben die Wälder wildleer geschossen – aufgrund dieses Nahrungsmangels konnten die letzten Wölfe ausgerottet werden.

Doch wie gefährlich ist der Wolf jetzt tatsächlich?

Kotrschal: Wölfe sind also potenziell gefährlich – aber nur, wenn die Bedingungen schlecht sind – Krieg, wildleere Wälder, Tollwut. In den letzten 20 Jahren – der Zeitraum der starken Wiederkehr der Wölfe in Mitteleuropa – hat es null Vorfälle mit Menschen gegeben. Ja, irgendwo hat auf einem Waldweg mal ein Wolf eine Joggerin interessiert angeschaut. Aber wenn die schreit oder ihm einen Stein hinterherfetzt, ist der Wolf weg. Im Moment kann man wirklich sagen: Wölfe sind ungefährlich, wir brauchen uns nicht fürchten. Da ist die Begegnung mit einem Wildschwein unter Umständen wesentlich kritischer.

Haben Sie als Experte eigentlich vorhergesehen, dass sich die Wölfe in Mitteleuropa so rasch vermehren würden?

Kotrschal: Es ging überraschend schnell. Deutschland ist diesbezüglich das aufregendste Experiment weltweit. Hier gibt es seit 20 Jahren die am schnellsten wachsende Population, die nicht beschossen wird – 20 Prozent pro Jahr, nahezu wie Karnickel. Die Wölfe haben offiziell keinen Jagddruck und breiten sich sehr rasch in die Fläche aus. Brandenburg ist bedeckt mit Wolfsrudeln und überall sind die Probleme enden wollend.

Ist das in Deutschland ein großes Thema wie bei uns?

Kotrschal: Teilweise, besonders an der Front der Ausbreitung. Es bleibt Thema bei den Weidetierhaltern, wo die Haltung von Schafen und Mutterkuhherden auf der Wiese ein bisschen aufwendiger wird. Doch von zehn Weidetierhaltern in Norddeutschland schreit einer – und das ist meistens der, der schlampigen Herdenschutz betreibt. Insgesamt hat man einen rationaleren Umgang mit dem Wolf jenseits des Weißwurstäquators. In Ländern mit katholischem Kulturhintergrund – etwa in Bayern, Österreich oder Südtirol – ist das ganz anders. Da tut am Land jeder, was er will, um es ein bisschen übertrieben auszudrücken. Im riesigen Bayern gibt es nur wenige Wölfe. Und warum? Vermutlich aus demselben Grund wie bei uns: weil hier Wölfe massiv illegal abgeschossen werden.

Kennen Sie die Wolfsvorkommen in Niederösterreich?

Kotrschal: Da bin ich nicht ganz am Laufenden, aber wir haben natürlich das längstgediente Rudel in Allentsteig, wo die Leute um Walter Arnold forschen. Und wir haben relativ neue Rudel an der Grenze vom Waldviertel mit Oberösterreich. Es kommen auch laufend Wölfe aus Sachsen, Polen und der Tatra ins Land. Es ist also klar, dass es eine steigende Zahl von Sichtungen gibt. Das ist nichts Beunruhigendes.

Wenn wir jetzt von gerissenen Schafen hören, hat das in der Regel mit vernachlässigtem Herdenschutz zu tun?

Kotrschal: Ich kenne die Fälle nicht, aber zu Herdenschutz gibt es viel Know-how. Im Flachland werden für gewöhnlich Zäune verwendet. Die sollten ordentlich gewartet und der Strom sollte eingeschaltet sein. Auch wenn alles optimal läuft, wird der Schutz nie bei 100 Prozent sein. Wölfe haben die unangenehme Eigenschaft, dass sie relativ persistent sind, wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt haben; und sie haben die unangenehme Eigenschaft, dass sie relativ klug sind und immer wieder einmal etwas ausprobieren. Aber wie gesagt: Am sichersten ist, den Wolf einmal die Erfahrung machen zu lassen, dass er einen Stromschlag kriegt, wenn er sich für Schafe interessiert. Das wirkt dann relativ nachhaltig abschreckend. Alles andere ist im Prinzip Unsinn. Die technische Lösung, abgesehen vom Zaun fürs Flachland, haben wir nicht, deshalb ist die Vergrämung ein bisschen ein Pseudothema.

Wie wird also das Zusammenleben von Mensch und Wolf künftig aussehen?

Kotrschal: Mein Gott, man wird sich daran gewöhnen. Vor 22, 23 Jahren gab’s in Deutschland keinen Wolf, jetzt gibt es 2.500 und in den meisten Gebieten ist es kein großes Theater mehr, denn man hat gesehen: Es passiert nichts. Außer mit den Schafen, wenn man nicht aufpasst. Im Gegensatz zu Tirol. Da wurde der Wolf zum Politikum und man wird den Eindruck nicht los, dass er als Sündenbock für lange verfehlte Landwirtschaftspolitik herhalten muss. In Niederösterreich habe ich eher den Eindruck, dass sich die schwarze Reichshälfte mit diesen Verordnungen profilieren will und sich nicht vorwerfen lassen will, dass man nichts tut.

Was sagt man jenen, die sich im Stich gelassen fühlen?

Kotrschal: Wenn man sich dazu entschließt, mit Wolf, Bär und Luchs zu leben, dann muss man in Kauf nehmen, dass das nicht ganz kostenlos ist. Es kann in einer Demokratie natürlich nicht sein, dass man den Leuten am Land, die Schafe haben, sagt: Schaut, dass ihr mit dem Wolf zurechtkommt, und wir freuen uns, dass es den Wolf wieder gibt. Wenn dafür entsprechende Kosten anfallen, dann sind wir dafür verantwortlich. Es gibt gut gefüllte Fördertöpfe der EU – die werden von der österreichischen Landespolitik nicht abgeholt, sondern man setzt lieber auf Abschussfantasien und lässt damit die Betroffenen wirklich im Regen stehen. Das ist schon tragisch.

Die Lage sollte sich also auch bei uns beruhigen …?

Kotrschal: Ich rechne damit, dass sich die Lage in den nächsten Jahren beruhigen wird, wenn Einsicht einsetzt. Es ist ja in Deutschland nicht so, dass alle vom Wolf begeistert sind. Dort ist der in der FFH vorgesehene günstige Erhaltungszustand nahezu erreicht und dann sieht das Gesetz ja auch vor, dass gemanagt werden darf. Wenn das in Österreich passiert, wird es realistischerweise eine jagdliche Regulierung geben. Dann kommt es drauf an, dass man das entsprechend vif macht.

Kritiker könnten jetzt meinen: Wie kommen wir dazu, dass wir jetzt wieder mit dem Wolf leben, wo unsere Vorfahren große Mühe damit hatten, ihn auszurotten?

Kotrschal: Ein durchaus verständliches Argument, aber die Einstellung zur Natur hat sich in den letzten 50 bis 100 Jahren geändert. Die erhöhten Schutzbestimmungen in Europa sind ja Folge eines geänderten Naturbewusstseins. Und das ist nicht nur Romantik. Wir haben eine Biodiversitätskrise, die sich gewaschen hat und die unsere eigene weitere Existenz gefährdet. Wir müssen also schon schauen, dass wir extensivieren – es gibt übrigens nicht nur den Green Deal der EU, sondern weltweit die Forderung, dass 30 Prozent der unter Nutzung stehenden Flächen wieder extensiviert/renaturiert werden müssen, damit wir eine Zukunft haben. Dass einem in so einer Situation als Erstes einfällt, nach Abschuss zu schreien, wenn der Wolf wieder auftaucht, passt einfach nicht.

Biologe Kurt Kotrschal
Wolfsforscher Kurt Kotrschal
Foto: Brandstaetter

Welche Rolle kann hier der Wolf spielen?

Kotrschal: Der Wolf ist ein Top-Prädator, der das Ökosystem in positiver Art beeinflusst – zum Beispiel ist er besser darin als jeder Jäger, Wildbestände gesund zu halten. Die Jäger sollten also froh sein, dass er da ist, und sollten sich entsprechend helfen lassen. Außerdem haben wir in Österreich diese seltsamen Gepflogenheiten der Wildfütterung – besonders im Winter. Jede Wildfütterung ist ein Selbstbedienungsladen für den Wolf. Da muss sich einiges ändern im Zusammenleben. Die Jagd und das ganze Wirtschaften müssen wesentlich ökologischer ausgeübt werden.

Wo sehen Sie die Fehler der Jagd?

Kotrschal: Naturverjüngung ist nur dann möglich, wenn die scheuen Wildbestände – also Reh und Hirsch – relativ gering sind. Doch in Österreich gibt es im Moment mehr Wild, als es je in einem europäischen Land gegeben hat. Dabei wäre es Aufgabe der ca. 120.000 bis 130.000 österreichischen Jäger, dieses scheue Wild zu regulieren. Doch sie vergreifen sich lieber an Wolf & Co. Scheues Wild wird gehegt. Das ist eine seltsame Mentalität. Sogar der Rechnungshof hat schon kritisiert, dass ein Gutteil der österreichischen Schutzwälder zusammenbricht. Der Wolf wird es sicher nicht schaffen, die Reh- und Hirschdichten entscheidend zu verringern. Sie kommen ja deshalb so rapide zurück, weil sie so viel Nahrung finden. Die Jägerschaft ist also indirekt hauptverantwortlich. Wenn die Jagd ihrer Aufgabe nachkommen würde, wäre der Wolf ein unglaublich guter Assistent, der dann auch noch für Gesundheit sorgen könnte.

Wie?

Kotrschal: Wo es Wölfe gibt, steigt die lokale Biodiversität, weil sie sehr effizient die sogenannten Mesoprädatoren kontrollieren; das sind bei uns der Rotfuchs und der einwandernde Goldschakal, zum Teil auch der Fischotter, die viele Kleintiere entnehmen, zum Beispiele bodenbrütende Vögel. In Wolfsrevieren ist deshalb ein Ansteigen der Brachvogelbrut oder der Rebhuhnbrut zu erkennen. Wir sollten also nicht nur vom Problemwolf, sondern auch von den positiven ökologischen Wirkungen reden. Allerdings, da muss man auch wieder ehrlich sein: Der Wolf ist ein günstiger Co-Faktor, aber er wird den Öko-Karren nicht für uns aus dem Sumpf ziehen.

Was macht der Klimawandel mit dem Wolf?

Kotrschal: Nicht viel. Wölfe sind ähnlich gut wie Menschen oder Kolkraben im Besiedeln von Landschaften. Er ist ein breit aufgestellter Beutegreifer. Er wird sicher nie zum Veganer werden, aber er hat auch nix dagegen, den Kot anderer Tiere zu nehmen oder mal süßes Obst oder Früchte. Übrigens: Es gibt kein Vieh da draußen, das uns im Social Mindset ähnlicher ist als der Wolf – von der Lebensweise, von der Jagdstrategie, von der Art und Weise, wie wir zusammenleben. Das ist vielleicht ein Grund für diese zum Teil irrationalen Freund- und Feindschaften.