Thementag: Zeitzeuge erzählt von abenteuerlichen Flucht

Wie sich Identität formt, wenn sich ethnische, nationale oder familiäre Zugehörigkeiten und Bindungen ändern, wurde am vergangenen Samstag, dem ersten Veranstaltungstag der Kulturbrücke Fratres in diesem Jahr, thematisiert.
Am Vormittag zeigte die Prager Regisseurin Lenka Ovčáč ko vá im Institut Slavonice ihren Film „Im Einen Alles, im All nur Eines“, eine Dokumentation über das Gratzener Bergland, einen Landstrich an der Grenze zwischen Österreich und Tschechien. Die Filmemacherin führte Gespräche mit Menschen, die dort leben oder von dort vertrieben wurden, über Heimat, Vertreibung und Leid, Grenzen und grenzüberschreitende Verbindungen.
Mit der Vernissage der Ausstellung „Face to Face“ des aus Georgien stammenden und im Breisgau lebenden Malers Gela Samsonidse begann am Nachmittag die Veranstaltung im Gutshof Fratres. In großformatigen Bildern vereint der Künstler Abstraktes und Konkretes, stellt jeweils zwei Menschen Auge in Auge gegenüber.
Ein gepiercter, tätowierter Punk wird im Bild „Toleranz“ mit einer vollverschleierten Frau konfrontiert, keiner von beiden entspricht der herrschenden Norm. In „Bindung“ porträtierte Samsonidse das Ehepaar Bedzina Ramischwili und Andrea Schäfer, deren Herkunftsländer und ethnische Zugehörigkeiten sich unterscheiden.
Aufeinanderprallende Lebenskreise
Die gemeinsame Tochter Anuka Ramischwili-Schäfer, Medien-, Film- und Tonkünstlerin, hat dieses Thema in der ebenfalls am Nachmittag gezeigten Film-Installation „Lap(se)“ (englisch lap = Schoß, lapse = Verlust) aufgenommen und setzt sich darin mit ihrem Unbehagen und ihrer Zerrissenheit zwischen den aufeinanderprallenden familiären Hintergründen und vermeintlichen Zugehörigkeiten zu Hautfarbe, Ethnie und auch Geschlecht auseinander.
In einem Impulsvortrag sprach die Bildungswissenschafterin Zuzana Kobesova über Meinungsprägungen durch - oftmals falsche - Einschätzung der Eigenschaften von Mitmenschen, über innere Migration, Vorurteile, daraus entstehende Hindernisse und die Möglichkeit deren Überwindung.
Der in Österreich geborene, als Kind mit seinen Eltern vor der Nazi-Verfolgung geflüchtete und heute in Frankreich lebende 87-jährige Arzt und Autor Peter Berczeller erzählte die Geschichte seiner Familie. Vater Richard Berczeller war Jude und Sozialist, seine Arztpraxis wurde 1938 zwangsversteigert und er selbst verhaftet.
Familie floh nach Frankreich
Nach seiner Entlassung floh die Familie nach Frankreich, dann nach Afrika und 1941 nach New York, wo Richard Berczeller wieder seinen Beruf als Arzt ausübte. Warum Peter Berczeller nach vielen Jahren in den USA dann doch wieder nach Europa zurückgekommen sei und warum nach Frankreich und nicht nach Österreich, fragte ihn sein Gesprächspartner Elmar Csaplovics.
„Die Seele ist verwundet, wenn man aus einem Land vertrieben wird, das Vertrauen wiederzugewinnen, ist nicht möglich,“ war Berczellers Antwort. Die 93-jährige Holocaust-Überlebende Mara Kraus, die im ehemaligen Jugoslawien geboren und aufgewachsen ist, schilderte ebenfalls ihre abenteuerliche Flucht durch sieben Länder. „Wie sollte ich da Heimatgefühle haben?“, fragte sie.
Zum Abschluss und Ausklang der Veranstaltung spielte der in Ägypten geborene und in Prag lebende Jazz-Saxophonist und -Flötist Jeremy Chapman mit Libor Šmoldas an der Gitarre und Taras Volos am Bass zur Begeisterung des Publikums Eigenkompositionen, darunter den „Fratres Minor Blues“, und Standards der Jazz- und Blues-Musik.